Social Media in Soest vor 100 Jahren
Die jungen Frauen horchen – der große Saal des Hotels Overweg füllt sich, Stühle rutschen über die Dielen, der Schwarm aus Gesprächsfetzen schwillt an. Ida will über den Gang zur Saaltür schleichen, doch da läuft ihr Wilhelm über den Weg – „Mach Platz, ich bin zu spät. Ich muss mich noch umziehen“, zischelt er und öffnet die Tür zum Nebenraum, in dem die jungen Männer sich umziehen. Kleine Frechheiten dringen von Innen durch den schmalen Türspalt und dann ein freudig-ironisches „Ist der Herr auch schon da.“ Ida geht zurück zu den anderen Frauen. Sie sitzen auf den Stühlen, fassen immer wieder an die Perücken und Hüte, glätten mit fahrigen Händen den Rock. „Wilhelm ist wieder zu spät“, berichtet sie. „Sein Pferd lahmte und er musste mit den Eltern in der Kutsche fahren.“ Sie setzt sich. Leise fragt Elisabeth: „Ist das immer so aufregend?“ „Jedes Jahr wieder“, lächelt Ida sie an.
So könnte es gewesen sein im „Klub junger Landwirte im Kreis Soest“ vor etwa hundert Jahren. Die Abkömmlinge der großen Höfe der Nieder- und der Oberbörde treffen sich zum Tanz im besten Haus am (Potsdamer) Platz, dem Hotel Overweg. Der mächtig wirkende Bau war 1828 von dem Gastwirt Overweg als Hotel errichtet worden. Die passende Location für das regelmäßig Ende Januar stattfindende Fest der jungen Leute aus dem ländlichen Umkreis von Soest.
Angereist zum großen Ereignis sind Eltern, Geschwister und die jungen Leute reitend oder mit der Kutsche. Abgespannt wurde an zwei Stellen in Soest: Die Gäste aus der Oberbörde kutschierten die Thomästraße runter und spannten bei der früheren Gaststätte Schwarze ab. Die Niederbörder parkten Pferde und Gespanne hinter dem Hotel Voßwinkel, auch „Steckrübe“ genannt, das nach dem 2. Weltkrieg Platz machte für das Möbelhaus Gremlich am Markt. Von den Stallungen hat nichts die Zeiten überdauert, was wahrscheinlich auch für die Parkhäuser unserer Zeit gelten wird.
Die jungen Leute führten der Verwandtschaft die Quadrille a la Cour vor, erzählt Christina Jansen-Rautenberg aus Einecke, deren Mutter und Tante auf einigen Fotos zu erkennen sind. Ob die Musik vom Grammophon kam oder jemand live spielte, ist nicht überliefert. Die Quadrille ist ein Paartanz und folgt einer feinen Choreografie aus Schritten und Drehungen und Figuren. Vergessen ist, ob auch die Kegelquadrille aus dem nahen Rhynern getanzt wurde.
Der Spaß der jungen Leute wurde noch gesteigert durch die jährlich wechselnden Kostümierungen – mal als barock rausgeputzte Hofgesellschaft mit Perücke und Dreispitz, mal als mondäne Veranstaltung in Satin mit Zylinder und Champagner, mal als Hochzeitsgesellschaft mit Spielleuten in exzentrisch gemusterten Anzügen. Das Brautpaar unter dem Kranz hat im Jahr 1920 auch im wirklichen Leben geheiratet.
Erzählt wird, dass die Kostüme vom Theater Dortmund entliehen waren. Wie die wohl nach Soest kamen – mit der Bahn, mit der Kutsche? Wer kümmerte sich? In den Archiven des Theaters in Dortmund findet sich keine Information dazu, ob das 1904 eröffnete Theater einen florierenden Kostümverleih hatte oder welche weiteren Gruppierungen mit Kostümen ausgestattet wurden. Ein Blick in die archivierten Theaterprogramme lädt zum Nachsinnen ein, für welches Stück die Kostüme in Dortmund verwendet wurden. Zum regelmäßigen Repertoire gehörten Opern und Operetten wie „Carmen“ von Georges Bizet, „Der Zigeunerbaron“ und „Die Fledermaus“ von Johann Strauss, aber auch Schauspiel wie „Fräulein Josette – meine Frau“ von Paul Gavault und Robert Charvey, was später, in den 20er Jahren, verfilmt wurde.
Es braucht nicht viel Phantasie, sich Gekicher und Gelächter vorzustellen bei der Inszenierung der Gruppenbilder, für deren Ablichtung häufiger auch der Fotograf Steimann aus Hamm anreiste. Ein Erinnerungsfoto der einen Sekunde, in der die Teilnehmenden in höchster Ernsthaftigkeit und angespannter Körperhaltung ihr Abbild in der Geschichte hinterlassen haben. Manche in der Soester Umgebung alteingesessene Familie ist sehr überrascht, wenn sie in den alten Familienalben eine Reihe dieser und ähnlicher Fotos findet. Die seltenen Hinweise auf der Rückseite der Fotos im Postkartenformat offenbaren, dass nicht nur die Quadrille, sondern die jungen Frauen auch den Glöckchentanz vorführten (1920). Spätestens ab 1920 stand das Hotel Overweg nicht mehr zur Verfügung für das soziale Event. Statt munterer Tanzschritte hallten nun für einige Jahrzehnte die festen Tritte der Finanzbeamten des Amtes Borgeln-Schwefe durch das Gebäude. Der Klub junger Landwirte zog mit seiner Veranstaltung nun um in den Soester Schützenhof und verlegte das Fotoereignis auf die Außentreppe und in den kleinen Saal.
Die Fotoreihe des Klubfestes der jungen Landwirte reicht von 1911 bis 1929, mit Ausnahme der Jahre 1914 bis 1919. Handelte es sich bei dem Klub um einen Ableger des landwirtschaftlichen Kreisvereins – oder der Soester Landwirtschaftsschule? Dazu fehlen Quellen. Der Teilnehmerkreis spricht dafür, dass es sich um ein exklusives Vergnügen handelte, bei dem man unter sich blieb und so ganz beiläufig Informationen für eine angemessene Partnerwahl sammeln und sich regional vernetzen konnte. Das Tanzvergnügen war also ein echtes Social Media – ganz ohne Internet.
Ilona Giese

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